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Ulrich Renz: Ochsentour in der Provinz

Viele, auch krumme, Wege führten zu einer Nachrichtenagentur – damals in den 1950er Jahren. Von Ulrich Renz.

Berlin - Manch älterer Kollege stammte noch aus der Steinzeit, als gleich nach dem Krieg allmählich wieder solche Betriebe unter kräftiger Mithilfe der Siegermächte entstanden und die Mitarbeiter nicht zuletzt danach ausgewählt wurden, ob sie in der englischen Sprache gut bewandert waren.

Sie erzählten von Fernschreibern, die die Wehrmacht auf ihrer Flucht in den Main geworfen hatte. Dann, so wurde kolportiert, fischten die Amerikaner und ihre deutschen Helfer diese Geräte, die das Herzstück aller Agenturen waren, aus dem Fluss, die mächtigen und lauten Maschinen wurden repariert und gesäubert und dienten fortan der Verbreitung von Nachrichten.

 


So haben viele erfahrene Journalisten Ulrich Renz noch in Erinnerung. Das Bild zeigt unseren Gastautoren an seinem Arbeitsplatz bei Associated Press in Frankfurt. Die Nachrichtenagentur AP hat das Bild verbreitet, als Ulrich Renz am 1. Februar 1986 zum Chefredakteur ernannt wurde.

 

Viele Redakteure kamen von den Zeitungen zu den Agenturen, einige stießen direkt von der Universität dazu, selten waren Zugänge von Funk und Fernsehen, denn dort verdiente man einfach mehr, und einige sattelten aus anderen Berufen um – wie beispielsweise Übersetzer.

Lehrjahre bei „Heidenheimer Zeitung“

Für mich selbst – geboren 1934 in Stuttgart und aufgewachsen im ostwürttembergischen Giengen an der Brenz, der Heimat des Teddybären – begann alles im benachbarten Heidenheim: Bei der „Heidenheimer Zeitung“, die als erstes Blatt am Platze ihre Auflage von 14.400 im Jahre 1953 auf 17.800 im Jahre 1958 steigerte und stolz darauf war, die einzige „Vollredaktion“ im Verbreitungsgebiet zu besitzen. Die drei Konkurrenz-Gazetten waren dagegen „Kopfblätter“.

Die Nachkriegszeit hatte eine Reihe guter Journalisten, die Heidenheim vorher wahrscheinlich kaum dem Namen nach kannten, in diese Industriestadt auf der Schwäbischen Alb verschlagen, darunter einen ehemaligen Redakteur aus dem Berliner Ullstein-Verlag und einen Chefredakteur aus Königsberg. Dazu sorgte die ungewöhnlich starke Konkurrenz von vier Blättern in einem Landkreis mit etwa 100.000 Einwohnern für besondere journalistische Anstrengungen. Es ging die Sage, dass der in der Branche allseits bekannte Professor Emil Dovifat im fernen Berlin seinen Publizistik-Studenten die Zustände im Kreis Heidenheim als Beispiel für harten Konkurrenzkampf zu schildern pflegte.

„Redaktion nur Garnierung des Produktes“

In dem Verlag machte ich mich als kaufmännischer Lehrling nützlich, im Vertrieb und in der Anzeigenabteilung. Die machte kein Geheimnis aus ihrer Überzeugung, dass sie dass Geld für den Fortbestand der Zeitung herbeischaffe und die Redaktion nur so eine Art Garnierung des Produktes liefere. Anzeigenleiter war ein sehr ausgeschlafener Stuttgarter, der mit der Redaktion beharrlich um Platz für Annoncen rang, aufsässigen jungen Redakteuren gerne den Rat gab, sie sollten „doch lieber Stadtpfarrer“ werden, und der bei harten Kontroversen auch mal nach der höchsten Instanz rief: “Wo ist denn mein Herausgeber?“

Herausgeber aber war ein leibhaftiger Professor, der auch so angeredet wurde und den die amerikanische Besatzungsmacht für würdig befunden hatte, die Lizenz für die Herausgabe einer Zeitung zu erhalten.

Er war von imposanter Statur, mit weißem Haar, hatte eine gewisse Scheu vor den täglichen Ärgernissen einer Lokalzeitung und brütete lieber über einem geschliffenen Leitartikel. Gelegentlich erschien er in der Redaktion und manchmal sogar abends im Umbruchraum, in dem die Seiten für die nächste Ausgabe zusammengebaut wurden.

Bei einer derartigen Inspektion stand er so störend im Weg, dass ihn der Sportredakteur und spätere Lokalchef Erwin Roth - zu jener Zeit einer der ganz wenigen Einheimischen in der mit Vertretern aller möglichen deutschen Stämme gespickten Redaktion – auf gut schwäbisch mit dem Zitat des Götz von Berlichingen anfauchte. Der Professor, der aus einer feinen Gegend stammte und solche Grobheiten nicht gewohnt war, trat beleidigt ab.

Diese Redaktion bemühte sich einige Zeit vergeblich, einen Abiturienten als Volontär zu finden. Daher machte eines Tages einer in der Redaktion den Vorschlag, es doch  „mit dem jungen Kerle zu versuchen der da unten im Vertrieb herumhockt“.

Damit wurde ich in die Redaktion und in die Obhut von Dankwart Reissenberger befördert, der als Meister des Redigierens unumschränkt über den Lokalteil herrschte. Sein ausgeprägter Akzent wies ihn als Siebenbürger Sachsen und damit als Angehörigen einer Volksgruppe aus, die offenbar eine unverhältnismäßig große Zahl von Journalisten hervorbrachte. Mit dem Stuttgarter Korrespondenten, einem Landsmann, sprach er zuweilen rumänisch, und die Siebenbürger Tradition bei der HZ wurde später von dem Sportredakteur Bruno Moravetz fortgesetzt – der zeitweise auch für den Kulturteil verantwortlich war.

Geschliffener Nachwuchs

Der Nachwuchs bei der Zeitung wurde von Reissenberger regelrecht geschliffen. Ich musste zu Beginn eine einzige, kurze Meldung ganze 16-mal umschreiben, ehe der Chef sie akzeptierte.

 

NEWSROOM-Gastautor Ulrich Renz

Ulrich Renz, geboren 1934 in Stuttgart, Lehrjahre bei der „Heidenheimer Zeitung“, 1959 bis 1971 Redakteur beim deutschen Dienst von UPI in Frankfurt, zuletzt Chef vom Dienst, 1971 bis 1997 Redakteur bei AP in Frankfurt, davon unter anderem fünf Jahre Chefredakteur.

 

Wer ihm ein Manuskript ablieferte, konnte hinterher nur noch wenige der ursprünglichen Worte erkennen, so sehr hatte er mit sicherer Hand und großer Geschwindigkeit darin herumredigiert. Er achtete bei anderen auf Pünktlichkeit und seriöses Auftreten und scheute nicht davor zurück, einen Volontär zum Frisör zu schicken. Und er brachte Peter Härtling – den Volontär im zweiten Jahr – dazu, Krawatte zu tragen, was der bis dahin strikt abgelehnt hatte. Wer durch seine harte Schule gegangen war, konnte sich getrost auf den weiteren journalistischen Weg machen.

Redaktions-Vollversammlung regelte Einstellungen

Einstellungen in die Redaktion wurden von der Vollversammlung der Redakteure geregelt, eine basisdemokratische Einrichtung, die im Pressewesen sicherlich Seltenheitswert hatte. In dieser Versammlung ging es besonders hoch her, als sich Peter Härtling bei der HZ bewarb, der schon ein Jahr Volontariat in Nürtingen hinter sich hatte und der neben Arbeitsproben auch ein dünnes Bändchen mit Gedichten unter dem Titel „poeme und songs“ vorwies, das moderne Lyrik ausschließlich in Kleinschrift enthielt und von einigen Kollegen, die Gereimters lieber mochten, mit Hohn abgetan wurde.

Doch die Befürworter von Härtling, mit Erwin Roth an der Spitze, setzten sich durch, und der Neuling errang nach und nach auch die Anerkennung Reissenbergers, nicht zuletzt durch die Berichterstattung über einen spektakulären Mordfall.

Nach dem Ende des Volontariats übernahm Härtling – so jung, dass er zunächst nicht ins Impressum aufgenommen werden durfte – das Feuilleton der HZ, und der später so erfolgreiche Schriftsteller machte daraus einen viel beachteten Kulturteil. Daneben schrieb er weiter Gedichte und erklärte diese Mühlsal nach harter Tagesarbeit bei der Zeitung später mit den Worten: „Des isch älles a Sache der Ei'teilung.“

Vorliebe für Umbruch

Mit ihm teilte ich die Vorliebe für den Umbruch, der gar nicht zu den Leidenschaften der Redakteure gehörte und dem er noch in der Zeit, als er als freier Schriftsteller arbeitete, nachtrauerte. So fiel es den übrigen Redakteuren nicht schwer, uns beiden immer wieder „ihren“ Umbruch anzudrehen. Denn eigentlich sollte diese Arbeit in strenger Reihenfolge von allen verrichtet werden.

Von dieser unserer Vorliebe machte Reissenbergers „zweiter Mann“ weidlich Gebrauch: Hans, genannt Jonny, Klein, flotter Junggeselle und Anhänger einer flotten Schreibe, der gelegentlich die harte Gangart des Chefs abzumildern versuchte. Klein war dafür bekannt – und auch berüchtigt -, dass er seine Reportagen nach Möglichkeit mit einer schönen Landschaftsbeschreibung begann.

Auf Betteltour

 


Dieses - gestellte - Foto veröffentlichte die „Heidenheimer Zeitung“ zum Bericht über die Betteltour von Ulrich Renz.

 

Mich schickte Reissenberger, keinen Widerspruch duldend, gleich in den ersten Wochen auf eine Betteltour und verwirklichte damit eine Idee, für die er schon länger ein Opfer gesucht hatte.

Meinen etwas unbeholfenen Bericht darüber versah er mit einem Vorspann: „Unser Redaktionsmitglied fiel fast vom Stuhl, als es den Auftrag erhielt, das gute Herz der Heidenheimer auf die Probe zu stellen. Er sollte in einer verschlissenen Jacke in den Randgebieten und im Zentrum Heidenheims an die Türen pochen und um eine 'milde Gabe' bitten. Am nächsten Morgen machte er sich auf die ungewöhnliche 'Betteltour'. Eine Nickelbrille und ein quer über die linke Backe geklebtes Pflaster sollten neben der dürftigen Kleidung den Eindruck eines bedauernswerten Menschen hervorrufen. Das Ergebnis war verblüffend. In knapp anderthalb Stunden hatte er 2,81 DM, größtenteils von Frauen, erhalten. Niemand kam auf den Gedanken, die Polizei zu rufen, obwohl Betteln durch Gesetz verboten ist. Er erreichte durch die Bettelei einen Stundenverdienst von 1,87 DM, während ein Bauhilfsarbeiter bei schwerer Arbeit nach dem Tarif einen Stundenlohn von 1,44 bis 1,55 DM und ein Maschinenschlosser von 1,51 DM die Stunde erhalten . . .“

   

Ein Kollege gab mir die sarkastische Bemerkung mit auf den Weg, „unser Mut wächst mit der Entfernung.“

Damit umschrieb er kurz und treffend, dass es in solch einem Blatt ungemein leichter war, den Machthabern beispielsweise in China in einem Kommentar unverblümt die Meinung zu sagen, als etwa herbe Kritik am Landrat zu üben.

Doch Erwin Roth – Nachfolger Reissenbergers als Leiter der Redaktion und der beste und integerste Chef, den ich je erlebte – wehrte sich zäh und erfolgreich gegen die Zumutungen vieler Ladenbesitzer, die – indem sie auf dem Weg über die Anzeigenabteilung intervenierten – darauf bestanden, dass die Annonce, mit der sie eine Neugestaltung ihres Geschäfts anzeigten, auch mit Bild und Text im Lokalteil honoriert werden sollte.

„Nur über meine Leiche“ sagte Roth auch, als der Besitzer zweier Kinos in der Stadt darauf bestand, es stehe der HZ nicht zu, richtiggehende Filmkritiken zu veröffentlichen, sie habe sich mit Inhaltsangaben zu begnügen.

    

Gebet für uralte Rotationsmaschine

Alle im Haus aber einte die Sorge um die uralte Rotationsmaschine im Erdgeschoss, die aus den 1920er Jahren stammte und sämtlichen Befürchtungen trotzte, sie werde irgendwann über Nacht, wenn die Zeitung gedruckt wurde, zusammenbrechen. Der Professor gestand einmal, dass er jedes Mal ein Gebet spreche, wenn er an diesem Ungetüm vorübergehe, und ein respektloser Redakteur erklärte einem Besucher: „Auf der ist schon die Bannbulle gegen Luther gedruckt worden.“

    

Die Maschine hielt aber durch. Dagegen fiel Ende der 50er Jahre die alte HZ-Redaktion allmählich auseinander. Reissenberger, zu dessen gelegentlichen Besuchern in der Redaktion ein junger Mann namens Manfred Rommel – Sohn des aus Heidenheim gebürtigen Generalfeldmarschalls – gehörte, zog es zur weiteren Betätigung dahin, wo nach Meinung vieler Kollegen nicht nur das politische, sondern auch das journalistischen Herz schlug: Nach Bonn. Dort machte auch Jonny Klein Station, ehe er Pressechef der Olympischen Spiele in München und schließlich Vizepräsident des Bundestages wurde. Härtling ging zur „Deutschen Zeitung“, wurde Buchverlagsmanager und ließ sich schließlich bei Frankfurt als freier Schriftsteller nieder. Roth landete gar, als Presseattaché, im Dienst des Auswärtigen Amtes.

„Größter Schock meines Lebens“

   

Danach musste Wilhelm Greiner die Fahne der eingeborenen Heidenheimer in der Redaktion hochhalten. Er war der letzte Chefredakteur der “Vollredaktion“, dann bezog auch die HZ ihren „Mantel“ genannten überlokalen Teil von auswärts. Greiner amtierte zu der Zeit, als die Zeitung gerade noch einer Katastrophe entging, bei der ich mir selbst den größten Schock meines beruflichen Lebens bescherte.

   

Unter dem Regiment Greiners - der später die Leitung des sehr viel größeren „Schwarzwälder Boten“ übernahm, arbeitete ich mit dem Kollegen Heinz Mörsberger (danach „Stuttgarter Zeitung“) in der Redaktion für überregionale Nachrichten zusammen, die kurz „Politik“ genannt wurde.

Zu jenen Zeit führte Papst Pius XII. einen langen Todeskampf, und am 8.Oktober 1958 deuteten für uns alle Nachrichten darauf hin, dass es mit dem Oberhaupt der katholischen Kirche nun wirklich zu Ende gehe. Wir verfassten einen “Aufmacher“, den großen Artikel auf der Seite eins, und zusätzlich eine ganze Sonderseite im Innern des Blattes: Auf der Titelseite war von der Trauer um den Papst die Rede, die Sonderseite trug die Überschrift „Papst Pius“ mit dem Kreuzzeichen für den Tod dahinter. Wir zögerten den Andruck der Zeitung möglichst lange hinaus, denn über den Fernschreiber wollte und wollte die Todesnachricht nicht eintreffen.

Verzweifelung, düstere Spekulationen und Standpauke vom Chefredakteur

  

Schließlich ließen wir die Zeitung durch die Rotationsmaschine laufen. Tausende von Exemplaren waren gedruckt, doch die entscheidende Meldung aus Rom stand immer noch aus. Wir waren völlig verzweifelt und ergingen uns in düsteren Spekulationen über das Schicksal der Zeitung und unsere eigene Zukunft, denn es war nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Leser am Morgen ihre Zeitung mit der Todesnachricht vor sich liegen hätten und im Radio hören würden, dass der Papst immer noch mit dem Tode ringe.

    

Papst Pius starb in jener Nacht um 3.25 Uhr. Wir wankten wie betäubt nach Hause. Dass die HZ als eine der ganz wenigen oder als einzige Zeitung an diesem Morgen den Tod meldete, war kein Grund zur Freude. Und am Vormittag mussten wir uns eine fürchterliche Standpauke von Greiner anhören.

   

1959 entdeckte ich meine Leidenschaft für den Nachrichten-Journalismus. Folgerichtig verbrachte ich mein berufliches Dasein bis zur Rente bei den deutschen Diensten der Agenturen United Press International (UPI) und Associated Press (AP) in Frankfurt.

Ulrich Renz

Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Gehversuche im Journalismus? Oder an besondere Augenblicke? Schicken Sie uns Ihre Erinnerungen mit Fotos "von damals" gerne an redaktion@newsroom.de.

 

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