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Wilm Herlyn: Jeder Text ist kürzbar - nur nicht der vom Ressortleiter

Eigentlich wollte Wilm Herlyn vom Volontärsvater der "Welt" wissen, was er denn studieren solle, um seinem Traumberuf nachzugehen. Also, was studiert man, um Journalist zu werden? „Ist egal.“

Berlin - Bei Wilm Herlyn, der später 20 Jahre lang die Geschicke der Deutschen Presse-Agentur bestimmte, wurde es dann Philosophie, Politik- und Kommunikationswissenschaft. Für Newsroom.de erinnert er sich an eine besonders prägende Episode in seinem Berufsleben - der Text vom Ressortleiter ist heilig und nicht zu kürzen. (B.Ü.)

So einen richtigen ersten Schritt in den Journalismus habe ich wohl nicht getan in der Art: Hier stehe ich nun und ihr könnt gar nichts anderes, als mich Journalist werden zu lassen.

Kurz vor dem Abitur reiste ich nach Hamburg zum Volontärsvater der „Welt“. Der hieß Nawrocki, war ein bärbeißiger Typ und erklärte: „Studieren Sie erst einmal.“ Meine Frage: „Aber was? Was ist am günstigsten für den Journalismus?“ Er knurrte: „Ist egal“ -  und ich war entlassen.


Nach dem vierten Semester stand ich vor dem Berliner Büroleiter der „Welt“, Bernt Conrad, und fragte: „Kann ich nicht mal mitarbeiten?“ Die Antwort kam von dem damaligen Korrespondenten Hans-Erich Bilges: „Klar, ich mache hier Hochschulpolitik, da können Sie mir helfen. Sie sind doch an der FU (Freien Universität)?“ 

 


So wurde in den 1970ern bei der "Welt" noch Blatt gemacht: Wilm Herlyn (Mitte) im Gespräch mit "Welt"-Chefredakteur Wilfried Hertz-Eichenrode (links) und Rudolf Hajduk, Redakteur von “Aus aller Welt” (Vermischtes). Das Foto entstand 1976 im Großraum ("heute würde man Newsroom sagen") der "Welt" in Bonn in der Zentralredaktion Godesberger Allee 99, vor Chefredakteur "Hertz-E" liegt Layout-Papier, um Seiten zu konzipieren. Wilm Herlyn war gerade zum Ressortleiter Politik Deutschland berufen worden. Foto: Jochen Lampe/Privatarchiv Dr. Wilm Herlyn

 

 

Hochschulpolitik klang gut, war aber: Vollversammlung im Henry Ford-Bau der FU oder Audimax der TU, Demo auf dem Kurfürstendamm, Teach-in, Sit-in, Go-in … denn wir schrieben das Jahr 1968/1969.

Redakteur Bilges durfte nicht mehr auf den Campus

Und Hochschulpolitik fand sozusagen auf der Straße statt. Und Bilges, so ging die Sage, durfte sich nicht mehr auf den Campus wagen ob seiner scharfen Artikel gegen Dutschke & Co. 

Also hatte ich einen Fuß in der Tür zum, wie ich wähnte, Himmelreich.

In allen Semesterferien ergatterte ich Praktika in Berlin, Hamburg und Essen und wurde eigentlich wie ein Volontär auf Zeit behandelt. Und - in heutigen Zeiten nicht vorstellbar - erhielt ungeduldige Anrufe, ich solle mich nun mal endlich mit der Promotion sputen, ewig könne die "Welt" nicht auf mich warten.

Nach neun Semestern hatte ich es dann gepackt. Dann doch erst drei Monate Volontariat bei der mir noch fehlenden Station: Feuilleton. Eine herrliche und lehrreiche Zeit unter Jost Nolte bei der „Welt der Literatur“. 

Seite 3 war reserviert für Edelfedern

Aber eigentlich wollte ich ja in die politischen Redaktionen. Die Weihe folgte jedoch auf Seite 3 - die damalige Reportage-Seite der "Welt", reserviert für Edelfedern. Wir waren zwar eingebettet in die Zentralredaktion, deuchten uns aber als etwas Besonderes: der ingeniöse Herrmann Renner, unser Ressortleiter, Dr. Eberhard Nitschke, Dr. Walter Spiegel - und der Kleinste: ich. Für das Grobe.

Das hieß: Seite nach Renners Vorstellungen aufreißen, vom Blattmacher genehmigen lassen, Autoren flehentlich bitten, pünktlich und eine genaue Anzahl von Zeilen zu liefern, Fotos herauszusuchen.

Redaktionswache hielt der Jüngste

Derweil war es später Mittag, die Redakteure Renner, Nitschke, Spiegel trafen im „Treffpunkt“ ein, eine Original-Hamburger Kneipe mit Bier und Korn im Erdgeschoss des angemieteten Verlagsgebäudes an der Kaiser-Wilhelm-Straße. Einer hielt in der Redaktion Telefonwache - also der Jüngste, also ich  - nahm die Manuskripte entgegen, gab diese in den Satz. Und fertigte besondere Zettel für Hinrich Renner an. Der nämlich hasste die Technik und alle damit verbundenen Arbeiten: das Ausfüllen eines Überschriftenblattes, auf dem eigentlich nur die Nummer das Artikels, der Schriftgrad, die Schriftart, die Spaltenbreite angekreuzt werden musste und natürlich die Schlagzeile selbst. Nein, Renner kannte kein „Doppelmittel“ oder „24 Punkt“, kein Paragon oder Bodoni oder Neuzeit. Er wollte es auch nicht lernen. „Das hemmt meine journalistische Freiheit“, schnaubte er und verlangte einen Zettel, auf dem lediglich stand: 2 Zeilen à 25 Anschläge. Den Rest erledigte der hilfswillige Redakteur. Und Renner machte es glänzend, seine Schlagzeilen trafen den Punkt - ohne noch einmal auf die Druckfahnen zu schauen, er hatte ja die Artikel mit den Autoren am Morgen abgesprochen. Das reichte ihm. 

Mit schnellen Schritten in die Mettage

Ich eilte in die Mettage zum Umbruch. In der Regel passten die Fotos und - richtig ausgerechnet - passten auch die Artikel in der Länge oder in den Überschriften. Aber wehe, es gab Übersatz. Wer kürzt? Was kann man streichen? Und das in affenartiger Geschwindigkeit - häufig gar nicht auf der Druckfahne, sondern „im Blei“ - denn wir alle hatten gelernt, Spiegelschrift und von oben auf den Kopf zu lesen. Aber bei dem ersten Mal mit mehr als 50 Zeilen Übersatz streikte ich – raste zum “Treffpunkt“ und Renner oder Nitschke oder Spiegel kürzten. Renners Glaubensbekenntnis prägte sich bei mir ein: „Jeder Artikel ist kürzbar“. Kurz vor Prägeschluss für die Seite dann: geschafft. Uff.

 

Newsroom.de-Gastautor Wilm Herlyn war viele Jahre Chefredakteur der Deutschen Presse-Agentur. Für Newsroom.de erinnert er sich an seine ersten Schritte im Journalismus. Foto: obs / news aktuell GmbH

 

 

50 Zeilen Übersatz


Aber es musste ja so kommen: am nächsten Tag wieder in der Metttage, wieder weit mehr als 50 Zeilen Übersatz, höhnische Grinsen der Metteure - mal sehen, wie sich der Neue da heraus windet. Dieses Mal, die Zeit drängte, kürzte ich selbst mit einem wahren Streichkonzert, aber nur in einem der drei Artikel – das ließ sich einfach kürzen, meinte ich, beachtete nicht die Blicke der Metteure, ließ einen Seitenabzug machen. Renner hatte es ja postuliert: „Jeder Artikel ist kürzbar“. Der musste es wissen, der war ja Ressortleiter.

 

Zur Person: Wilm Herlyn - Geboren am 21. Januar 1945, aufgewachsen in Nordhausen / Harz; Abitur 1966, anschließend Studium Philosophie, Politik- und Kommunikationswissenschaft, Geschichte in Würzburg, Berlin, Salzburg, München, Promotion 1971. Berufsleben: 15 Jahre Redakteur bei "Die Welt" als Redakteur, Ressortleiter Deutschlandpolitik, Chef vom Dienst, Leiter Landesbüro NRW, zwei Jahre Geschäftsführender Redakteur  bei der Illustrierten "Bunte" für Politik, Zeitgeschehen und Wirtschaft, drei Jahre stellvertretender Chefredakteur und Blattmacher "Rheinische Post", 20 Jahre Chefredakteur "Deutsche Presse-Agentur" (dpa). Herlyn hält heute Vorträge an der Universität, ist in der Medienberatung aktiv und Juror verschiedener Journalistenpreise. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. B.Ü.

 

Wenn Alphatiere brüllen

Also mit der Seite wieder zur Renner-Truppe in den „Treffpunkt“. Ein vernichtender Blick des Meisters - und ein tosendes Gewitter mit Blitzen und Donner brach los.

Ein Gezeter, wie ich es noch nie in der Redaktion vernommen hatte (und da ging es schon häufig überlaut zu). Renner gebärdete sich wie Rumpelstilzchen, rief in der Mettage an und ließ die Seite anhalten. Er machte in Windeseile alle Streichungen wieder auf und kürzte in den anderen Artikeln auf der Seite. Ich wagte Widerspruch: „Gestern sagten Sie mir doch noch: Jeder Artikel ist ...!“, und kam keinen Ton weiter. Denn Renner schrie: „Das war gestern richtig, aber nicht heute. Natürlich ist jeder Artikel kürzbar, aber doch nicht MEINER.....“ Das hatte ich übersehen: Der Stoff, der sich in der Mettage so schön und leicht hatte streichen lassen, war von Hinrich Renner selbst.


Wir hatten nur fünf Minuten Andruckverzögerung. Also Antreten beim Chefredakteur. Das war damals Dr. Herbert Kremp.

Politische Nachrichtenredaktion mit Michael Spreng, Claus Larass und Hans-Hermann Tiedje

Er war der erste Chefredakteur in meiner Laufbahn bei der "Welt", es sollten noch zehn andere in den kommenden 16 Jahren folgen. Das übliche Gespräch . . . “und was wollen Sie denn später bei uns machen?“ Ich erwiderte: „Politische Nachrichtenredaktion“ – und schwups, da landete ich in kürzester Zeit. Und fand mich in Gesellschaft von Michael Spreng, Claus Larass, Hans-Hermann Tiedje. Das war wohl mein eigentlicher Startschritt.

Aber Zeit, abends zum „Treffpunkt“ zu gehen, wo Renner immer noch mit seiner Truppe saß, blieb trotzdem.

Wilm Herlyn

Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Gehversuche im Journalismus? Schicken Sie uns Ihre Erinnerungen mit Fotos "von damals" an redaktion@newsroom.de.

 

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