Medien
Newsroom

Stellen Journalisten die falschen Fragen?

Stellen Journalisten die falschen Fragen? Henning Noske, Lokalchef der Braunschweiger Zeitung

Wie Kommunalpolitik für ­Leser sexy wird, erklärt Henning Noske, Lokalchef der Braunschweiger Zeitung, im Interview mit der aktuellen Drehscheibe.

Wie wird Kommunalpolitik für ­Leser wieder sexy, Herr Noske?

 

Henning Noske: Warum ist Kommunalpolitik denn nicht sexy? Wir wissen, dass viele Begriffe aus der Politik von den Leuten nicht verstanden werden. Was ist ein Ergebnishaushalt, ein Verwaltungshaushalt? Das wissen oft nicht mal die Leute, die das beschließen. Das ist nicht sexy. Sexy ist es jedoch, wenn man Menschen hat. Sexy ist es, die Gesichter und Geschichten zu suchen, die an kommunalpolitischen Themen festgemacht sind.

 

Liegt es an der fehlenden Augenhöhe gegenüber den Lesern?

 

Es gibt einerseits eine häufig zu große Nähe zu Lokalpolitikern, Funktionären und Verwaltungssprechern. Andererseits beschäftigen wir uns sehr stark mit uns selber und sitzen auf dem hohen Ross. Wir sehen uns als Gatekeeper. Und aus dieser Mentalität heraus vergessen wir oft die Leser. Aber wir müssen die Geschichten auf Augenhöhe mit den Lesern suchen – und die Themen auf Augenhöhe erklären. Wir verlieren Leser allein dadurch, dass sie die Sprache, die wir oft benutzen, nicht mehr verstehen. Die Lesewert-Forschung hat uns gezeigt, dass es bestimmte komplizierte Zitate, Begriffe, Formulierungen gibt – da steigt der Leser einfach aus. Eine solche Missachtung des Lesers können wir uns heute nicht mehr leisten. Das ist kein Populismus, sondern die volle Konzentration auf die Bedürfnisse und Nähe zu seinen Themen. Bei der Lesewert-Forschung haben sich genau diese als attraktiv herausgestellt.

 

Stellen wir die falschen Fragen?

 

Es ist arrogant zu sagen, eine Baustelle, die mich auf dem Weg zur Arbeit mehr Zeit kostet, ist mir zu banal. Die Fragen, die sich die Menschen in ihrer täglichen Lebenssituation stellen, darf die Redaktion nicht ausblenden. Wenn wir uns danach richten, welche Agenda im Rathaus, in Vereinen und Verbänden gesetzt wird, letztlich von einer Funktionärskaste, dann stellen wir die falschen Fragen.

 

Sie haben es mit der Bürgerzeitung umgedreht, fordern die Menschen auf, Fragen zu stellen. Was hat das für Auswirkungen?

 

Die Braunschweiger Zeitung macht das sehr konsequent. Armin Maus, der Chefredakteur, hat das durchgesetzt als das stärkste redaktionelle Prinzip. Seite 2 und 3 im Mantel werden fast komplett mit Fragen bestritten, die die Leser stellen und die Redaktion beantwortet. Das zieht sich durch das gesamte Blatt, auch den Lokalteil. Die Leser erteilen uns Rechercheaufträge. Wir bekommen die Rückmeldung, dass diese Themen hohe Lesequoten erzielen.

 

Besteht dabei nicht die Gefahr, dass den Journalisten die Themenhoheit entgleitet?

 

Natürlich behalten wir die redaktionelle Autonomie. Wir bleiben die Redaktion, die Themen sucht und Themen setzt. Es ist ja keine neue Erfindung, viel mit dem Leser zusammen zu machen, sich auf die ­direkte Betroffenheit zu konzentrieren. Wir erkennen sehr gut, dass nicht die Berliner Themen die Hauptanliegen sind, sondern die Straße, der Kindergarten, die Schule, alles vor Ort. Es geht darum, dass die Redaktion Kommunalpolitik und ihre Gesichter und Geschichten zum Topthema macht.

 

Das braucht viel Platz. Was lassen Sie dafür weg?

 

Wir lassen sehr viele Ankündigungen weg. Termine kündigen wir oft nur noch als Dreizeiler an, nicht mehr als Meldung oder Zweispalter. Wenn die Redaktion es gelernt hat, konsequent darauf zu achten, dass ihr keine der Fragen entgeht, die dem Leser wichtig sind, und gleichzeitig die Dinge abstößt, die keine Lesequote bringen, dann haben wir wieder Spielräume für das, was wir am liebsten tun: Politik auf der kommunalen Ebene zu verstehen, zu übersetzen und die Leute wieder mitzunehmen.

 

Das heißt, Sie schreiben keinen klassischen Sitzungsbericht mehr?

 

Den Sitzungszweispalter gibt es schon lange nicht mehr. Die Sitzungen interessieren uns oft gar nicht mehr. Wir gehen proaktiv vor, greifen die Themen heraus, die Publikumswirkung haben. Vor allem arbeiten wir mit unterschiedlichen Stilformen, Reportagen, Interviews, Grafiken, Faktenboxen und so weiter.

 

Wie wichtig ist neben der Themenauswahl die Darbietung?

 

Gerade daran hat es lange gekrankt. Es ist uns lange egal gewesen, wie wir es transportieren. Dabei ist immer stärker die Art und Weise entscheidend, wie ich etwas personalisiere, wie ich es in Gesichtern und Porträts zeige, wie ich Zahlen visualisiere und auch ins Verhältnis zueinander stelle. Wir haben bei der Lesewert-Untersuchung Entwicklungen festgestellt, wie wir sie auch online kennen. Da verändert sich unser Lokaljournalismus. Er wird visueller, direkter, härter, schneller. Die Geschichten werden personalisiert, visualisiert, auch emotionalisiert. Wenn wir über eine menschliche Geschichte an Politik rankommen, haben wir ganz andere Quoten und erreichen die Leser ganz anders als über Sitzungen, Ausschüsse und politische Rechenschaftsberichte.

 

Die Leserforschung sagt, dass die Menschen nicht nur Antworten auf ihre Fragen suchen, sondern vor allem Orientierung. Welchen Stellenwert hat das bei Ihnen?

 

Die Stilform des Kommentars und der Kolumne erlebt nicht nur eine Renaissance, sie geht fast durch die Decke. Die Leser reagieren darauf äußerst positiv und wertschätzend. Selbst ein Kommentar, der der Meinung der Leser nicht entspricht, hat hohe Lesequoten, weil es geschätzt wird, wenn jemand deutlich seine Meinung sagt. Wir haben gelernt, dass ein Redakteur seine Position vollständig klarmachen muss – natürlich stets bei klarer Trennung von Nachricht und Kommentar. Es ist sehr attraktiv, dass sich der Autor mit seinem Gesicht einbringt wie eine Marke, wie ein Produkt. Auch hier kann man vom Onlinejournalismus viel lernen.

 

Können wir schon in der Journalistenausbildung erreichen, dass die kommunalpolitische Berichterstattung besser wird?

 

Wir müssen überlegen, wie bilden wir überhaupt Journalisten aus? Das Volontariat in der Redaktion ist Learning by Doing. Das ist intensiv, aber es besteht die Gefahr, dass die jungen Leute mit ihren neuen Ideen untergehen. Da müssen die älteren Kollegen und die Redaktionsleiter sich klarmachen, dass speziell dieser Bereich ein paar neue Ideen benötigt: direkte Themen suchen, Porträts schreiben, Betroffene besuchen, die Sitzungsberichterstattung durch eine Reportage ersetzen. Oft ist es so, dass junge Leute diese Ideen mitbringen, es ihnen aber in der Redaktion relativ schnell abgewöhnt wird. Wir müssen die jungen Kollegen dazu ermutigen, da riskanter vorzugehen.

Und sehen Sie sich die oft sehr kümmerliche akademische Ausbildung an! Weitgehend lernt man an den Unis zu wenig darüber, wie es in den Redaktionen zugeht. Dort müssen noch mehr Labore, auch für den neuen digitalen Journalismus, gegründet werden. Vor allem ist wichtig, wie die Übersetzung von Kommunalpolitik funktioniert zwischen der Redaktion und dem Rathaus, den Fraktionsbüros und gesellschaftlichen Gruppen. Da liegt noch vieles im Argen.

 

Wie kommen die Kollegen mit der neuen Herangehensweise klar?

 

Wir tun uns oft schwer damit. Auch die von mir mittlerweile favorisierte Konvergenz mit wichtigen Online-Kriterien löst nicht immer freudige Erregung aus: schnell, direkt, emotional, interaktiv. Kollegen sehen es zum Teil nicht als ihre Funktion an, Entertainer zu sein. Auch Chefs, die das durchsetzen wollen, treffen auf Skepsis in ihren Mannschaften. Vor allem Skepsis gegenüber den Lesern, die sich aus unserer Sicht ja auch nicht immer nur mit Ruhm bekleckern. Leser sind oft einseitig, parteiisch, sehen eigene Teilinteressen. Natürlich müssen wir als Redaktion das übergreifende Interesse sehen. Doch unsere Leser zu hassen, das geht natürlich auch nicht.

 

Was sagen Sie den Zweiflern und Skeptikern?

Wir müssen durch einen kritischen, frechen, fast aufmüpfigen, Widerspruch erregenden Journalismus die Aufmerksamkeitsschwelle heben. Das ist kein Krawalljournalismus. Das ist die Erkenntnis: Ich muss in der heutigen Zeit strampeln, muss mich in die Mitte der Arena stellen, ein Podest aufbauen und ein Megafon nehmen. Das heißt, ich muss aktiv Themen besetzen und in die Öffentlichkeit gehen. Ich muss mich deutlich und drastisch um meine eigene Wahrnehmung als Redaktion bemühen. Sonst geraten wir gegenüber der massiven Konkurrenz ins Hintertreffen, Konkurrenz vor allem um Zeit auf allen digitalen Kanälen und in allen Netzwerken.

 

Die besten Geschichten entstehen ja immer dann, wenn die Redaktion Lust darauf und Spaß daran hat. ­Erleben Sie diese Freude?

 

Natürlich befinden auch wir uns im Hamsterrad – und gefühlt dreht es sich immer schneller. Aber wir dürfen niemals vergessen, warum wir in diesen wunderbaren Reporter- und Redakteursberuf gegangen sind. Weil jeder von uns ein riesiges Interesse an den Themen und am Gemeinwesen hat, auch eine unbändige Neugier, etwas Neues herauszubekommen. Und drittens – ein Punkt, der immer wichtiger wird – die Lust zu publizieren, seine Meinung zu sagen und öffentlich zu zeigen, dass man Dinge verstanden hat und erklären kann. Wir wollen Menschen bewegen und gewinnen. Das Wichtigste, was Journalisten und Autoren erreichen können, ist, dass ihr Denken, Fühlen und Ausdrucksvermögen Kunden und Leser findet, die in den glücklichsten Momenten sagen: Ich habe dich gern gelesen, du hast mich bewegt, du hast mein Verhalten verändert.

 

Interview: Robert Domes

 

 

Henning Noske ist seit 2011 Lokalchef der Braunschweiger Zeitung in der Braunschweiger Stadtredaktion. Er begann seine Laufbahn im Lokalen bei den Wolfsburger Nachrichten und als Sportredakteur der Braunschweiger Zeitung. Er studierte Politik und Geschichte an der TU Braunschweig. Er hat einen Lehrauftrag Printjournalismus an der TU Braunschweig und verfasste die Lese- und Lern-Bücher „Journalismus – Was man wissen und können muss“ und „Online-Journalismus – Was man wissen und können muss“.