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Wie KI die Medien und Newsrooms verändert: unbequeme Wahrheiten von Christian Lindner

Wie KI die Medien und Newsrooms verändert: unbequeme Wahrheiten von Christian Lindner Christian Lindner

Medienprofi Lindner analysiert die aktuelle Lage der Medien und Newsrooms. Mit Blick auf die KI-Revolution wagt er eine Prognose für 2030 – 14 Thesen.

Berlin – Christian Lindner war Chefredakteur der „Rhein-Zeitung“ (Koblenz) und Stellvertretender Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, insgesamt 45 Jahre im Journalismus und Pionier im Digitalen. Für kress.de analysiert er die aktuelle Lage der Medien und Newsrooms. Mit Blick auf die KI-Revolution wagt er eine Prognose für 2030 und analysiert den Jetzt-Zusatand:

 

DIE AUSGANGSLAGE
1. Die Redaktionen der Medien stehen unter Druck: Sie müssen immer mehr Kanäle bedienen, immer mehr Formate generieren, immer mehr und immer schneller Veröffentlichungen stemmen. Das erhöht die Zwänge und steigert die Belastungen für die Newsrooms insgesamt ebenso wie für die für sie arbeitenden Journalisten.
2. Am Markt wie Unternehmens- und Sender-intern wachsen die Anforderungen an das Publizierte. Beispiele: 24/7 reaktionsfähig sein; Themen nach User Needs definieren und realisieren. Zugleich dünnen Schichtdienste die Netto-Besetzung der Redaktionen problematisch aus.
3. Die Umsätze aus dem Printsektor werden weiter sinken. Daraus resultieren weitere Sparzwänge und/oder Investitions-Bremsen in den Verlagen. Sie erschweren eine personelle Ausstattung der Redaktionen, die deren wachsenden Aufgaben gerecht wird. Auch in den Öffentlich-rechtlichen Sendern regieren Sparzwänge, die Wünsche und Anforderungen konterkarieren.
4. Immer mehr Redaktionen haben beim Personal auch in punkto Qualität Probleme. Wegen deutlich weniger Bewerbungen haben die Verlage die einst hohen Ansprüche bei der Auswahl des Nachwuchses spürbar gesenkt. Seltener als geboten können junge Journalisten homogen reifen, zu oft werden sie früh und faktisch oft allein im Dienst an die Fronten des Digitalen geworfen. Der Markt registriert ihre Überforderung; das Image der Medien leidet auch deshalb.
5. In den Online-Redaktionen wird fließbandartig, mit zu hoher Schlagzahl gearbeitet. Die Kluft zwischen der kargen Realität und den hohen Ansprüchen des Marktes sowie der Verlagsleitungen und Redaktionsmanager erzeugt eine täglich spürbare Spannung in den Newsrooms. Sie verschleißt die Channelmanager ebenso wie die Reporter. Gepaart mit der Frage nach den Perspektiven der Medien sorgt das für immer neue Abgänge von Journalisten in die PR und andere Berufsfelder.
6. Unverändert investieren Journalisten zu viel Zeit und Energie in das Generieren und Bearbeiten von Standardtexten. Auch Stoffe, die auf vielen anderen Kanälen zu finden sein werden, werden mit hohem Aufwand als Einzelstück realisiert. Selbst Texte, die absehbar kaum Leser finden, werden nach althergebrachten Gepflogenheiten ressourcenbindend realisiert. Das effiziente Neu-Nutzen von bereits publizierten Texten aus dem eigenen Haus gilt als verpönt.
7. Für Klicks und Lesetiefen sind Zeilen und Teaser von Texten entscheidend. Zeilen sind viel wichtiger als in Print geworden. Die Mehrzahl der Autoren und selbst viele Channelmanager tun sich jedoch schwer mit guten Zeilen und Teasern. Gleiches gilt für Zwischenzeilen und Sprungmarken. Die Digitalmedien vergeben damit viele Chancen: Gute Texte haben weniger Leser als verdient und eine niedrigere Durchlesequote als möglich.
8. Zeitgemäßes Wissensmanagement in Newsrooms ist die Ausnahme. Erworbenes und vorhandenes Wissen ist verinselt und vereinzelt. Gut gepflegte und offensiv genutzte interne Wikis sind die Ausnahme. Die Redaktionen nutzen ihr eigenes Archiv-Gold nicht. Recherche beginnt deshalb zu oft bei Null. Vorhandenes Wissen ist nicht bekannt, verschüttet oder nicht leicht genug erschließbar. Stattdessen regiert reflexhaftes, zeitraubendes und ineffizientes Googeln.
9. Zu viele Newsrooms haben nur Journalisten in neuer Organisationsform gruppiert anstatt zusätzlich zu Journalisten bewusst viele und auch neue Berufsfelder in Teams zu vereinen. Webentwickler, Datenanalysten und Conversionmanager etwa sind in Newsrooms gar nicht vertreten oder nur Randfiguren. Selbst in Onlineredaktionen fremdeln zu viele Journalisten mit technischen Themen und dem Vermarkten von Content.
10. Die Redaktionssysteme in den Newsrooms sind selten smart. In der Regel normieren und erschweren sie die Arbeit der Journalisten. Zu wenig geht einfach, zu vieles ist kompliziert. Etliche Redaktionssysteme hemmen die digitale Entwicklung, weil ihre DNA printgeprägt ist. Ein rein schematisches Anflanschen von KI-Lösungen an diese archaischen Systemwelten wird diese Spannung noch erhöhen.
11. Zu viele Redaktionen sehen KI lediglich als interessantes Tool, das in ihre gewohnte Arbeitsweise integriert wird. Die Zukunftsaufgabe KI wird an die raren Techies im Team delegiert.
12. Zu wenige Redaktionen realisieren, dass KI die Chance bietet, aber auch die Notwendigkeit beinhaltet, sich völlig neu aufzustellen.
13. Newsrooms und Redaktionen insgesamt sollten die geplante Nutzung von KI zum Anlass für ein radikales Gedankenexperiment nutzen: Wie würden wir uns aufstellen und arbeiten, wenn wir unser Medium jetzt neu gründen würden – im Wissen um alle Möglichkeiten, die sich jetzt bieten?
14. Redaktionen, die KI klug nutzen wollen, sollten folgende Strategie realisieren: Für alle Standardprozesse muss der Aufwand mit und dank KI deutlich reduziert werden. Die dadurch frei werdenden Ressourcen werden konsequent nur für Aufgaben investiert, die auf Kernziele einzahlen. Und auch dabei wird KI gezielt eingesetzt.

 

DIE LAGE 2030
1. Es ist normal geworden, dass User auch bei der Nutzung von Medieninhalten KI einsetzen – als effizientes Instrument bei der gezielten Suche oder als integriertes Tool von Suchmaschinen.
2. KI hat die Rolle und Relevanz von Medienportalen weiter geschwächt. Sie werden noch seltener direkt und regelmäßig angesteuert. Search dominiert; die Portale sind faktisch mehr zum Image-Instrument der Verlage und Sender geworden. Ihre erhoffte Rolle als Eingangstor zum umfangreichen Informationsangebot hat sich immer mehr als internes Wunschdenken erwiesen.
3. Die KI hat faktisch die Rolle von Mediendiensten übernommen. Immer mehr User füttern KI-Tools mit ihren persönlichen Informationswünschen zu Themenfeldern und Regionen, die KI liefert ihnen den individuellen Informationsmix im gewünschten Rhythmus und in der gewünschten Tiefe.
4. KI ist für die Informationsbeschaffung einfach geworden. Einst expertig anmutende Prompts sind für den Normal-User zu einfachen Fragen im Siri-Stil geworden. Fragen wie „Was gibt es heute Neues aus dem Kreis NN?“ sind normal und werden von den Suchmaschinen umfassend beantwortet.
5. Suchmaschinen sind Finde- und Erklär-Dienste geworden. Gut lesbar und informativ formulierte Antworten auf die Fragen der User lösen immer mehr die langen Listen mit gefundenen Links ab. Diese neue Generation der Suchmaschinen konkurriert damit direkt mit den Medienportalen.
6. KI beeinflusst die Paid-Strategien der Medienhäuser massiv. Inhalte hinter den Paywalls werden im Originaltext oder über Zeilen, Teaser, SEO-Angaben, Social Media und Re-Postings durch User ausgelesen und distribuiert, ohne dass die Medienhäuser das in ihrem Sinne steuern oder gar kontrollieren können.
7. Reflektierende Medienorganisationen haben erkannt, dass das gedankenlose Verteilen von im Netz gefühlt überall verfügbaren Informationen weder wirtschaftlich Sinn macht noch auf ihren Markenkern einzahlt. Sie setzen stattdessen auf Inhalte, die nur sie so generieren können. Relevante Inhalte aus den Lebensumfeldern der User (Lebensinteressenszonen wie Städte, Stadtteile, Regionen oder Pendlerbezüge) sind immer wichtiger geworden.
8. KI hat den Trend verstärkt, dass reine Nachrichten zwar stark konsumiert werden, aber kaum vermarktbar sind. Einordnungen, Kommentierungen, Vertiefungen, Recherchen und Investigatives hingegen haben weiter an Bedeutung für Umsatz und Repuation der Medien gewonnen. Autoren mit klar definiertem Profil und offensiver Präsenz in Social Media sind für Medienmarken wichtiger denn je.
9. Starke Inhalte werden innerhalb der Medienbranche, aber auch durch User noch schneller und hemmungsloser geklont. Medien selbst setzen KI auch zur Auswertung ihrer Marktbegleiter ein; selbsternannte digitale Distributoren ebenfalls. Exklusivität ist noch schneller verflogen als früher; Medienhäuser und Autoren müssen von Weiterverbreitern massiver denn je einen gerechten Linkfrieden einfordern.
10. Gute Redaktionen haben sich dank KI völlig neu aufgestellt statt nur ein paar KI-Tools an ihre überholten Strukturen anzuflanschen – inhaltlich, organisatorisch, personell.
11. Dank KI verbreiten viele Redaktionen noch mehr Texte als früher. Der Long Tail ist noch länger geworden, teils gegen innere Überzeugung. Die gefühlt gewachsene Konkurrenzlage regiert. Die Redaktionen investieren aber deutlich weniger Energie in Standards. Gute Redaktionen lenken ihre Kraft in Inhalte, die nur sie so liefern können. Diese „Hebel-Inhalte“ haben die größten Effekte in punkto Wirtschaftlichkeit und Image.
12. In den Newsrooms guter Redaktionen arbeiten nun wirklich konsequent gemischte Teams statt überwiegend Journalisten. Spezialisten etwa für Optik, Multimedia und KI arbeiten maßgeblich mit statt nur zu.
13. Es ist Standard geworden, dass Redaktionen alle Überschriften, Teaser, Sprungmarken und Bildunterzeilen mit Hilfe von KI generieren oder optimieren. Gute Redaktionen nutzen für alle relevanten Texte eigens modifizierte KI mit Textchef-Qualitäten, die die jeweilige Stil-Farbe des Hauses geschmeidig und überzeugend umsetzt.
14. Redaktionen suchen ihr Personal anders als früher aus. Gut schreiben können ist keine Hauptqualifikation mehr. Es ist stattdessen wichtiger geworden, dass möglichst viele Kräfte in der Redaktion wissen, was ein guter Text und ein erfolgstreibender Inhalt ist und wie man ihn mit KI-Hilfe generiert oder optimiert. Die Redaktionen suchen und finden deshalb deutlich mehr technisch und fachlich orientierte Mitarbeiter als früher. Die Dominanz der Geisteswissenschaften in den Redaktionen geht zurück.

 

Tipps:

  • Lindners 2 x 14 Thesen sind das Eröffnungskapitel des eBooks „Traumpaar statt Alptraum – Medien und KI“. Das ebook ist von dem auf KI spezialisierten Software-Unternehmen nuwacom (Koblenz) herausgegeben worden. Das eBook kann hier gratis oder hier runtergeladen werden.
  • „kress pro“-Titelgeschichte: Der große KI-Toolreport

 

Zur Person
Christian Lindner (65) hat 45 Jahre im Journalismus gearbeitet – mehrere Jahrzehnte davon als Redaktionsmanager und Innovator auch im Digitalen. Unter anderem war er Chefredakteur der Rhein-Zeitung (Koblenz), Stellvertretender Chefredakteur der „Bild am Sonntag“ und Digitalchef der „Nordsee-Zeitung“ (Bremerhaven). Seit diesem Jahr ist er im Ruhestand.