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200 Treffen mit Lesern: Was Chefredakteur Benjamin Piel dabei überrascht hat

200 Treffen mit Lesern: Was Chefredakteur Benjamin Piel dabei überrascht hat Benjamin Piel: 200 Menschen, 200 Texte.

Benjamin Piel ist seit rund einem Jahr Chefredakteur des „Mindener Tageblatts“. In dieser Zeit traf er 200 Menschen aus der Region und schrieb 200 Texte darüber. Piel zählt zehn Erkenntnisse auf, die er aus seiner Aktion #200in365 gewonnen hat.

Minden – Diese zwölf Monate meines Lebens waren so hart wie begeisternd. Zum Antritt als Chefredakteur des „Mindener Tageblatts“ hatte ich mir im Juni vergangenen Jahres vorgenommen, unter dem Titel #200in365 an 200 Orten 200 Menschen in unserem Verbreitungsgebiet zu treffen. Denn was Besseres kann es geben, um sich in ein neues Lebens- und Arbeitsumfeld einzuarbeiten. Die Idee war: Die Leute sollten mich zu Gesprächen einladen, ich wollte sie treffen und darüber schreiben.

 

Zuerst zitterte ich. Wie würden die Leute reagieren? Würden Sie gähnen und abwinken oder mich tatsächlich einladen? Sie reagierten. Und wie. Mal meldeten sich übliche Verdächtige vom Schützenverein und dem Deutschen Roten Kreuz. Mal Leute wie eine Frau, die seit ihrer Kindheit eine Glatze hat. Oder ein türkisches Ehepaar, das gerade seinen Dönerladen abgegeben hatte.

 

Schon innerhalb der ersten Woche hatte ich 100 Einladungen und wusste kaum, wo ich anfangen sollte. Ich tat es dann chronologisch. Einladung für Einladung terminierte ich, fuhr raus, sprach, schrieb auf, fotografierte, setzte mich spät abends nach der Arbeit hin und schrieb mal kurze Interviews, mal große Stücke.

 

Was für eine Aufgabe ich mir da gestellt hatte, wurde mir erst beim Machen klar. Die ersten 50 Treffen gingen ganz gut. Die Motivation des Neustarts blies mir Wind in die Segel. Die nächsten 50 wurden schon zäher. Als ich nach etwas mehr als einem halben Jahr bei 100 ankam, dachte ich, nun müsste sich ein wohliges Gefühl einstellen. Doch im Gegenteil: Ich sah einen bestiegenen Berg hinter mir, aber vor mir stand der nächste - in exakt der gleichen Höhe. Das war eine kritische Phase. Noch einmal 100 Treffen, 100 Gespräche, 100 Menschen, 100 Texte. Wie sollte ich das schaffen? Manchmal musste ich die Zähne zusammenbeißen. Aber dann stand ich am 365. Tag beim 200. Treffen auf einem Fernsehturm, schaute ins Weserbergland und dachte: Geschafft - und was für eine wunderbare Welt mit ihren zauberhaften Menschen!

 

1. Der frische Blick tut gut

Wir Lokaljournalisten neigen dazu, unsere Leute zu kennen. Man ist sich schon wenigstens zehnmal begegnet und kennt die Geschichten vieler Menschen. Nach 20 Jahren in ein und derselben Redaktion haben manche Redakteure den Eindruck, um alles und jeden zu wissen. Das ist auf der einen Seite nicht falsch. Es kann aber den Blick verstellen auf das eigentlich Spannende. Vielleicht gibt es im Leben eines Menschen, mit dem man schon oft gesprochen hat noch einen ganz anderen Aspekt, der bisher nie zum Tragen gekommen ist? Vielleicht findet der Redakteur selbst das Thema nicht spannend, aber das Publikum würde es sehr wohl gut finden, davon zu erfahren?

 

Zugegeben: Wer den frischen Blick hat, weil er neu in einer Region ist, hat es einfacher. Aber es tut auch denen gut, die schon seit Jahren dabei sind, immer wieder bewusst das Experiment zu wagen: Wie wäre es, wenn ich zum ersten Mal davon hören würde? Die Haltung des unvoreingenommen Interesses lässt sich erkämpfen und kann eine gute Medizin sein gegen den abgestumpften Blick.

 

2. Man kann die Leute nicht kurz abtun

Am Anfang glaubte ich, ich könne eine halbe Stunde bleiben, schnell zum Thema kommen und dann wieder gehen. Mission erfüllt, der Nächste, bitte! Aber das wurde den Menschen nicht gerecht. Ich musste mehr Zeit einplanen und manchmal wurden es zwei, drei Stunden. Das ist auf der einen Seite entsetzlich, denn wie knapp die Zeit in Lokalredaktionen ist, muss ich niemandem erzählen. Aber wenn wir uns keine Zeit für die Menschen mehr nehmen, dann werden sie auch keine Zeit in unsere Arbeit investieren. Wer sich in einer immer atemloseren Welt Zeit nimmt für die Menschen, den belohnen sie mit Aufmerksamkeit  

 

3. Jeder Mensch ist eine Geschichte wert - wenn wir sie sehen

Manchmal luden mich Menschen ein und ich dachte: "Was kann man daraus schon machen?" Und immer strafte mich die Wirklichkeit Lügen. In jedem Menschen steckt etwas, das sich erzählen lässt und das etwas über das Leben aussagt. Wenn wir danach suchen, was Menschen fasziniert oder bedrückt, wo ihnen die Augen leuchten oder die Tränen kommen. Dann wird diese Suche belohnt mit Geschichten, die andere nicht kalt lassen. Ein 80-jähriger Rock'n'Roller tanzte für mich durch sein Wohnzimmer. Ein Straßenzeitungsverkäufer ging mit mir durch die Fußgängerzone. Ein Frau erzählte mir, warum sie bis heute nicht das Leid loslässt, dass ihr Vater sie missbraucht habe. Ein Ehepaar beglückt es, ihr privates Wohnzimmer Fremden für kleine Theateraufführungen zu öffnen. Ein Mann hat eine Bürgerinitiative gegründet, weil er nicht akzeptieren will, dass in der Nähe ein Industriegebiet entsteht. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Der Lokaljournalismus mag in einer Publikationskrise sein. In einer Inhaltskrise ist er nicht - wenn er denn die Inhalte findet.

 

4. Die Menschen wollen reden - und es tut ihnen gut

Menschen wollen sich mitteilen, sie wollen sich unterhalten, wollen reden und sind neugierig. Wenn wir diesem Bedürfnis Raum geben statt wegzuhören und nur mit einem Ohr dabei zu sein, dann werden wir Menschen gewinnen. Denn das Zuhören tut nicht nur den Menschen gut. Es tut auch den Lokaljournalisten gut. Wenn die sich auf Menschen einlassen und ganz bei ihnen sind, dann werden sie Geschichten liefern, von denen viele andere den Eindruck haben, dass sich da jemand Zeit genommen hat. Wenn wir als Lokalmedien in der Gesellschaft jene sind, die als gute Zuhörer gelten, haben wir viel gewonnen. Dann gelten wir nicht mehr als die, die aus dem Wolkenkuckucksheim heraus am Leben vorbei arbeiten, sondern als die, die mitten im Leben ihr Ohr an den Menschen haben. Was wäre das für ein Gewinn!  

 

5. Die Welt ist zu bunt und komplex für schwarz-weiße Schemata

Vom Schreibtisch aus sieht die Welt manchmal sehr einfach aus. Ökolandwirtschaft ist gut, Atomkraft ist böse, Elektroautos sind toll, Kapitalismus ist schlecht, Beamte sind faul, niemand in Deutschland muss obdachlos sein. Welches dieser beliebig ausgewählten Klischees - oder wahlweise ihr inhaltliches Gegenteil - wir auch nehmen: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ist das nicht. Wer rausgeht und sich die Dinge vor Ort anschaut, sich die Argumente beider Seiten anhört und sich bemüht ihnen gerecht zu werden, stellt fest: Es ist nie so einfach wie es scheint. Die Medienkonsumenten merken, ob wir nur jene Welt hinschnitzen, die wir annehmen oder mit feinen Strichen eine Wirklichkeit schildern, die wir uns aus eigener Anschauung erarbeitet haben. So bunt wie die Menschen, die Gesellschaft und die Meinungen sind, müssen unsere Geschichten sein. 

 

6. Es geht um die Menschen 

Und zwar um die ganz normalen. Wir Lokaljournalisten hängen manchmal sehr an der Blickrichtung der Bürgermeister, Landräte, Kommunalpolitiker und Unternehmenslenker. Aber wissen wir auch, wie die Durchschnittsbürger auf das Leben schauen - unsere Kernkundschaft? Fühlen sie sich von uns vertreten? Schauen wir durch ihre Brille auf die Welt? Zeigen wir ihnen, was kommunalpolitische Entscheidungen für sie bedeuten? Sind wir an ihrer Seite? Während meiner Besuche haben mir Menschen oft mit auf den Weg gegeben, dass sie genau das von uns erwarten.

 

7. Kontakte sind alles

Wenn wir Partizipationsmöglichkeiten schaffen und signalisieren, dass wir teilhaben möchten am Leben, dann belohnen die Menschen das. Sie möchten, dass wir ansprechbar sind. Aber sie haben nicht immer den Eindruck, dass es so ist. Wir können gar nicht genug klar machen, dass Lokaljournalismus nur mit den Menschen gehen und keine Einbahnstraße sein kann. Die besten Geschichten haben ihren Ausgangspunkt oft in der Mitteilung eines Informanten. Je mehr Menschen das wissen und sehen, dass wir es ernst meinen, desto mehr Informationen können wir abgreifen, die uns exklusive und relevante Inhalte bescheren.

 

Für WhatsApp-Newsletter sieht es gerade nicht gut aus - das ist schade, denn viele Menschen haben diesen Kanal genutzt, um sich an uns zu wenden. Da brauchen wir eine neue Lösung. Das gilt auch für die gedruckte Zeitung. In der haben wir regelmäßig Coupons, auf denen Leser Hinweise notieren. Das klingt verzweifelt, aber es funktioniert. Kein Signal kann blöd genug sein, um klarzumachen, dass Redaktionen keine hermetisch abgeriegelten Festungen, sondern bestenfalls offene Kommunikationsräume sind.  

 

8. Menschen sind großartig

Wirklich! Denn:

 

9. Es gibt so viel mehr Liebe als Hass

Wir, die wir den ganzen Tag in die Abgründe sogenannter Sozialer Netzwerke starren, brauchen eine gute Dosis der anderen Seite des Lebens. Die Welt besteht nicht nur aus üblen Hetzkommentaren. Damit will ich das Problem nicht bagatellisieren. Aber es ist nicht gut, wenn wir den Eindruck haben, es gäbe nichts als Hassrede. Wenn wir hinausgehen, treffen wir warmherzige, offene, liebevolle, soziale, engagierte Menschen, die ein Kontrapunkt zu dem sind, was uns in den Netzwerken aufreibt. Geben wir diesen wundervollen Menschen - neben aller berechtigten Schilderung des Üblen - den Platz, den sie verdient haben! Nur dann sind wir Orte, die eben keine verdorbenen Echokammern sind, sondern dem Guten, das es so vielfältig gibt, Raum geben.

 

10. Wir dürfen uns nicht überfordern

Manchmal ist mir dieses Jahr vorgekommen wie ein Wesen mit zwei Köpfen. Einer duftete nach Rosen und sah aus wie ein Engel. Der andere grinste teuflisch und stank nach Schwefel. Ich habe mich überfordert und an den Abgrund geführt. Das ist nicht gut. Wir Journalisten laufen so schnell wie niemals zuvor. Mit der Krise im Nacken rennen wir auf einem Hochgeschwindigkeitslaufband. Das geht nicht lange gut. Seien wir engagiert und kämpferisch. Aber haben wir auch den Mut, uns das Durchatmen zu gönnen. Niemand hat am Ende etwas davon, wenn wir keuchend am Boden liegen.