Vermischtes
KNA – Manfred Riepe

Arte-Doku begleitet Journalisten bei der Enttarnung von Kreml-Propaganda

Verlässliches Überprüfen von Fakten soll die Narrative russischer Falschnachrichten entlarven. Der Filmemacher Dominik Wessely beobachtet exilrussische und ukrainische Journalisten bei der Enttarnung von Kreml-Propaganda.

Berlin (KNA) – Agitation funktioniert am besten über das Erwecken von Gefühlen. Am leichtesten lassen sich Emotionen erzeugen durch anrührende Szenen mit Kindern und Jugendlichen. Aus diesem Grund führt das russische Fernsehen gerne junge Menschen wie den 17-jährigen Philip aus Mariupol vor. Während der Bombardierung der Stadt haben ihn seine ukrainischen Adoptiveltern kaltherzig verstoßen. Vor der Kamera berichtet die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa von seiner „Rettung“. Der Moderator hakt nach: „Du hast in einer Stadt gelebt, in der die ukrainische Propaganda unser Land in den letzten zehn Jahren verteufelt hat“. Daraufhin erklärt der Junge, „dass ich falsch gedacht und gehandelt habe“.

 

Dass diese Bilder inszeniert sind, ist nicht sofort zu erkennen. Bei der Überprüfung dieser herzergreifenden Szene, die in sozialen Netzwerken eifrig geteilt wird, stößt Kyrylo Ovsyaniy, Spezialist für die Auswertung von Open-Source-Quellen bei Radio Free Europe, jedoch auf Ungereimtheiten. Mit Hilfe von Satellitenbildern stellt er fest, dass das Haus, welches der Junge im April 2022 angeblich verlassen musste, schon einen Monat zuvor von den Russen dem Erdboden gleich gemacht worden war: „Seine Pflegeeltern“, so Ovsyaniy, „konnten ihn wohl kaum aus einem Haus vertreiben, das bereits von der russischen Armee zerstört worden war“.

 

Faktenchecker bei der Arbeit

Arbeit wie die von Ovsyaniy ist langwierig und oft mühsam. Wie komplex solche Recherchen sind, belegt Grimme-Preisträger Dominik Wessely, bekannt für eine breite Palette dokumentarischer Arbeiten, indem er für „Mit Fakten gegen Putins Propaganda. Journalismus in Zeiten des Krieges“ unabhängigen Journalisten der ukrainischen Radiostation Radio Free Europe sowie des Berliner Senders OstWest-TV bei ihrer Arbeit über die Schulter schaut.

 

Lügengeschichten wie die aus Mariupol sind charakteristisch für russische Desinformation. Philips Story ist aber nur eine von vielen. Die Aufdeckung solcher Falschnachrichten ist für die Ukraine ein relevanter Aspekt im Kampf gegen den russischen Aggressor, der militärische Operationen bis hin zu Gräueltaten als „Befreiung“ darstellt. Um das Spektrum solcher Tatsachenverdrehungen in den Blick zu bekommen, beobachtet Wessely nicht nur Kyrylo Ovsyaniy und seine mühsame Arbeit für den ukrainischen Sender Radio Free Europe. Mit der Kamera begleitet er auch den Exilrussen Anton Trigub, der dank seiner Recherchen für den Berliner Sender OstWest-TV zu den wenigen verbliebenen, unabhängigen russischen Stimmen zählt.

 

Trigub richtet den Fokus auf eine vom Kreml häufig verbreitete Desinformation, die in der jüngeren Vergangenheit eigentlich sofort als solche erkennbar war. Schon seit den Maidan-Protesten vor zehn Jahren behaupteten russische Medien beharrlich, in der Ukraine seien Nazis zugange. Entsprechend hieß es in jüngerer Vergangenheit, auch in den baltischen Staaten seien Nationalsozialisten am Werk. Diese würden die dort lebende russische Bevölkerung als „Untermenschen“ bezeichnen.

 

Bezug zum Zweiten Weltkrieg und der NS-Zeit

Trigub und seine Kollegen fragen nach, wem diese verdrehten Geschichten nutzen und führen anhand von Beispielen vor, inwiefern die russische Propaganda sich auf simple Narrative stützt, die in den Köpfen der russischen Bevölkerung jedoch tief verwurzelt sind. So gibt es in nahezu jeder Familie die Erinnerung an Verwandte, die im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Hitler zu Helden geworden sind. Mit der Beschwörung des Nazi-Dämons stellt die russische Propaganda eine Kontinuität her zwischen dem einstigen Kampf gegen das braune Deutschland und der heutigen Situation.

 

Wie dreist diese Verdrehung von Tatsachen vorangetrieben wird, demonstriert Dmytro Dzhulay, ebenfalls Reporter für Radio Free Europe. In Händen hält er ein russisches Flugblatt, das ihm die Erzieherin eines ukrainischen Kindergartens übergab. In diesem Schreiben behauptet ein - mit Porträtfoto abgebildeter - russischer Kriegsveteran: „Ukrainische Feiglinge, die sich wie Terroristen hinter Zivilisten verstecken, stellen ihre Geschütze in Schulen und Kindergärten auf“. Dzhulay demonstriert, dass es sich umgekehrt verhält. Die Kamera zeigt eine verlassene russische Militärbasis, die in einem Kindergarten eingerichtet worden war.

 

Solche Geschichten, sagt Dmytro Dzhulay in der Doku, sind keine Einzelfälle: „Es sind Tausende“. Doch ohne journalistisch saubere Recherche all dieser Vorfälle - bei denen Dzhulay nach eigenem Bekunden nicht selten durch „ein Meer der Tränen“ watet - würden sich die Reporter selbst angreifbar machen. Entsprechend aufwendig ist auch die filmische Darlegung der jeweiligen Zusammenhänge. Das macht auch „Mit Fakten gegen Putins Propaganda. Journalismus in Zeiten des Krieges“ zu keinem dokumentarischer Spaziergang. Der Film ist im positiven Sinn sperrig.

 

Keine reißerischen Szenen

Reißerische Szenen von Kriegsschauplätzen, in denen Reporter mit Helm und kugelsicherer Weste in einem Schützengraben ängstlich in die Kamera schauen, gibt es nicht. Die Frontlinien des digitalen Informationskrieges liefern keine telegenen Bilder. Dennoch gibt es emotionale Momente. Zu Besuch auf der Münchener Sicherheitskonferenz, erfährt Anton Trigub vom Tod Alexei Nawalnys - mit dem er vor Jahren eng zusammen gearbeitet hat.

 

Wie sehr ihn und seine Kollegen die Nachricht vom Tod des Hoffnungsträgers der Opposition berührt, ist nicht zu übersehen. Da in diesem schmerzlichen Augenblick die Kamera mitläuft, reißen die Reporter von OstWest-TV sich zusammen. In diesem Moment verdichtet sich die Komplexität von Dominik Wesselys sehenswertem Dokumentarfilm in wenigen Bildern. - Eine emotionale Reaktion auf den Tod Nawalnys: Wäre dies nicht eine Bestätigung jener russischen Propaganda-Kriegsführung, gegen welche Trigub und seine Kollegen leidenschaftlich opponieren?