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Newsroom – Rupert Sommer

„Correctiv“-Chefredakteurin Anette Dowideit fordert mehr Investitionen in Lokaljournalismus – um die Demokratie zu schützen

„Correctiv“-Chefredakteurin Anette Dowideit fordert mehr Investitionen in Lokaljournalismus – um die Demokratie zu schützen Anette Dowideit (Foto: APA-Fotoservice/Schedl)

Das in Wien als „European Digital Publishing Platform of the Year 2024“ ausgezeichnete Recherchenetzwerk macht sich für eine Rückbesinnung auf Journalismus-Kernwerte stark. Was Dowideit konkret von Medienhäusern verlangt.

Wien – Mit ihrer Investigativ-Reportage vom AfD-Geheimtreffen in Potsdam, auf dem Anfang des Jahres hinter verschlossenen Türen über die unsäglichen Pläne zu einer sogenannten „Remigration“ von in Deutschland lebenden Immigranten und Mitbürgern debattiert wurde, hatte Correctiv.org für weltweite Schlagzeilen gesorgt (kress.de berichtete).

 

„Niemals hätten wir uns vorstellen können, was am nächsten Morgen und in den Tagen, Wochen und Monaten danach geschah“, berichtete Anette Dowideit, stellvertretende Chefredakteurin von Correctiv.org, bei ihrer bewegenden Eröffnungsrede für den European Publishing Congress im Wiener Palais Niederösterreich.

„Nie zuvor in der deutschen Geschichte hat eine Medienrecherche Millionen von Demonstranten auf die Straße gebracht“, so Dowideit. „Noch nie hat ein Bericht, der Fehlverhalten von Politikern aufgedeckt hat, eine anhaltende Bewegung in der Gesellschaft ausgelöst. Nach unserer Geheimplan-Recherche haben sich in ganz Deutschland Initiativen gebildet, die die Demokratie stärken wollen - und Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die lange Zeit unpolitisch waren, wieder ins politische Geschehen bringen.“

 

Auch mit dem Rückenwind des weltweiten Medienechos, aber auch durch die Verleihung des Gewinner-Preises bei den European Publishing Awards, der ebenfalls in Wien zum Abschluss der Tagung vor führenden Medienvertretern aus ganz Europa verliehen wurde, stellte Anette Dowideit konkrete Forderungen auf. Ihre zentrale Botschaft: den Menschen „da draußen“ endlich wieder richtig zuhören!

„Wir müssen das Publikum dazu bringen, uns zuzuhören und uns zu vertrauen, indem wir ihnen zuhören. Ich meine: Ihnen wirklich zuhören“, sagte die Chefredakteurin. „Wir bei Correctiv nehmen das sehr ernst, und ich möchte Sie alle ermutigen, das Gleiche zu tun.“

 

In der Redaktionspraxis der Plattform, die investigativen Journalismus als gemeinnützigen Auftrag einer Non-Profit-Organisation versteht, heißt das für Dowideit konkret: „Wir kommunizieren den ganzen Tag mit unserem Publikum, jeden Tag.“

 

Dabei kommt dem täglichen „Spotlight“-Newsletter mit mittlerweile 100.000 Abonnentinnen und Abonnenten eine zentrale Rolle zu: „Jeden Tag frage ich die Spotlight-Leser persönlich: Was sind Ihre größten Sorgen und Bedenken? Welche politischen Themen halten Sie für die wichtigsten? Mit welchen Themen sollten wir uns Ihrer Meinung nach befassen?“, so Anette Dowideit.

 

„Ich gebe meine persönliche E-Mail-Adresse heraus und bitte sie, mir direkt zu schreiben. Und das tun sie auch. An manchen Tagen erhalte ich über hundert E-Mails von diesen Abonnenten.“ Daraus entwickelt sie mit dem Team dann Geschichten und Untersuchungen.

 

Auf der hochkarätig besetzten Fachtagung mit führenden Medienvertretern, deren Themen aktuell naheliegenderweise sehr stark um die Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz bei den Umbrüchen in der Medienbranche kreisen, outete sich Anette Dowideit damit nicht ganz unerwarteterweise eher als KI-Skeptikerin.

 

„Künstliche Intelligenz kann echte Journalisten niemals ersetzen. Nicht, wenn man eine relevante Medienquelle sein will, der das Publikum zuhört“, so Anette Dowideit. „Nicht, wenn man sich selbst als ernsthaften Akteur im Spiel der Demokratie betrachtet.“

 

Dies gelte für alle journalistischen Berufe. „Nehmen Sie die Bildredaktion einer Zeitung: KI-Technologie wird niemals einen Fotoredakteur ersetzen können, der sich durch einen riesigen Stapel von Fotos von einem Treffen zwischen Olaf Scholz und Emanuel Macron wühlt - und das eine Foto findet, das die meisten Emotionen zwischen den beiden Männern zeigt“, so die Chefredakteurin. „Es braucht einen erfahrenen Journalisten.“

 

Zentral müssten Medienunternehmen daher auch ihre lokalen Zeitungsbüros in kleinen Städten sein - verbunden mit der unerlässlichen Augenzeugen-Perspektive, die auch der „Bild“-Chefredakteurin Marion Horn - ebenfalls vor Ort in Wien - so wichtig ist.

 

„KI wird nie in der Lage sein, auf die Straßen zu gehen, sich die Geschichten der Bürger anzuhören, ihre Hoffnungen und Sorgen - und zu entscheiden, welche dieser Geschichten es wert sind, erzählt zu werden“, so Dowideit.

 

Daher lautete ihre Schlussfolgerung in ihrer Schluss-Forderung in Wien: „Um den öffentlichen Diskurs zu führen, brauchen wir Reporter vor Ort - vor allem in lokalen Gebieten. Vor Ort wird das Vertrauen in die Demokratie hergestellt oder zerstört.“

 

Soll heißen, so Anette Dowideit: „Anstatt dort Reporter zu streichen und sich vom Lokaljournalismus zurückzuziehen, müssen wir in ihn investieren!“