Unmut über „Zeit“-Chef Rainer Esser und wie er darauf reagiert
Rainer Esser (Foto: Vera Tammen)
In „kress pro“ erklärt Chefredakteur Markus Wiegand, warum der „Zeit“-Geschäftsführer anderen Managern aus der Branche auf die Nerven geht. Esser hat inzwischen auf den Beitrag reagiert.
Hamburg – In der neuen „kress pro“-Ausgabe erklärt Chefredakteur Markus Wiegand, warum „Zeit“-Geschäftsführer Rainer Esser anderen Managern aus der Branche auf die Nerven geht – und wie dabei das Thema Solidarität eine Rolle spielt:
Die „Zeit“ gilt in Deutschland und sogar international als Vorzeigebeispiel für eine erfolgreiche Transformation. Tatsächlich ist es beeindruckend, wie Geschäftsführer Rainer Esser und Chefredakteur Giovanni di Lorenzo die Marke von einem Sanierungsfall zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Titel entwickelt haben.
Vor sieben Jahren hat dieses Magazin Esser für seine Verdienste zum „Medienmanager des Jahres“ gewählt. Wann immer Esser sich zu Wort meldet, wird ihm zugehört. Bei kress.de erzielen seine Wortmeldungen hohe Reichweiten. Auf Linkedin bekommt er für seine gesellschaftspolitischen Äußerungen viel Lob. Mehr als 50.000 Follower hat er dort inzwischen. Der außergewöhnliche Manager hat es als gelernter Journalist geschafft, ein Influencer der Branche zu werden.
Es gibt jedoch eine Gruppe, in der der Name Rainer Esser überraschend viel Ablehnung hervorruft, und das sind ausgerechnet seine Kollegen im Management. Der „Zeit“-Chef geht vielen Verantwortlichen zunehmend auf die Nerven. Ein Beispiel dafür ist seine Haltung in der Debatte um den Medienstaatsvertrag. Viele Regionalverlage, die wirtschaftlich immer stärker unter Druck geraten, klagen über die Konkurrenz durch die öffentlich-rechtlichen Sender. Esser mischte sich mit einem Interview im Deutschlandfunk in die Diskussion ein und betonte: „Wenn die Öffentlich-Rechtlichen jetzt verschwinden würden und es gäbe auch kein Digitalangebot von ihnen, dann würden wir einen sehr starken Mitspieler im Qualitätsjournalismus verlieren und die ,Zeit‘ hätte kein einziges Abo mehr. Und das gilt nicht nur für die ,Zeit‘, sondern sicherlich auch für den ,Südkurier‘ in Konstanz, für die ,Main-Post‘ in Würzburg oder für die ,Lausitzer Rundschau‘ in Cottbus.“
Viele, die bei Regionaltiteln Verantwortung tragen, sehen das ganz anders. Esser solle aufhören, über ein Geschäft zu sprechen, in dem er gar nicht tätig sei, sagte etwa jüngst der Chef eines großen Zeitungshauses in einem Hintergrundgespräch verärgert.
Schon in der Diskussion über den Umgang mit den amerikanischen Tech-Konzernen vor wenigen Jahren verstanden viele seiner Kollegen im Management die Haltung Essers nicht. Der zeigte stets viel Verständnis für die marktmächtigen Unternehmen.
„Wir sind in einem freien Wettbewerb. Wenn Google und Facebook gute Geschäfte machen, dann: Hut ab! Kooperation und Innovation statt Neid ist unser Weg“, sagte er etwa dem „Standard“ aus Österreich.
Viele Medienhäuser neideten allerdings nicht Google seinen Erfolg, sondern beobachteten vielmehr argwöhnisch das gute Verhältnis der „Zeit“ zu Google, das sich auch in Zahlen niederschlug. Die DvH Medien etwa (zu denen neben der „Zeit“ noch „Handelsblatt“ und „Tagesspiegel“ zählen), deren Geschäfte Esser ebenfalls führt, erhielten zwischen 2019 und 2021 rund 8,3 Millionen Euro brutto an Werbegeldern von Google, zeigt eine Auswertung der Nielsen-Zahlen. Da blieb auch netto ein hübsches Sümmchen übrig. Auch im Rahmen der „Google Digital News Initiative“ bekam das Unternehmen einen siebenstelligen Betrag.
Keine Solidarität mit den Kleinen Im Interview mit dem Deutschlandfunk rief Esser die Branche dazu auf, zusammen mit den Öffentlich-Rechtlichen nach Lösungen zu suchen. Er sagte: „Die Welt brennt draußen und in unserem Land gewinnen die Extremen an Zulauf, die Politiker verächtlich machen, die Journalisten und Medien verächtlich machen, die unsere Gesellschaft und unsere Demokratie zerstören wollen. Auf Plattformen von Tech-Konzernen werden massenhaft Fake News ohne jede Kontrolle verbreitet. Da müssen wir Qualitätsmedien doch nicht um des Kaisers Bart streiten.“
Auch das stößt vielen sauer auf. Der Grund: Bisher ist Esser vor allem dadurch aufgefallen, dass er die Interessen der „Zeit“ verfolgt hat. Solidarität mit kleineren Häusern zeigte er nicht. So versucht seit Jahren die Verwertungsgesellschaft Corint Media, die etliche Medien vertritt, möglichst hohe Zahlungen von Google nach dem Leistungsschutzrecht herauszuholen. Die „Zeit“ ist nicht dabei. Im Gegenteil. Sie schwächte die Verhandlungsposition, weil sie lieber einen eigenen Deal mit Google abschloss.
Das ist nicht verwerflich. Schließlich ist Esser Geschäftsführer eines privatwirtschaftlichen Unternehmens. Nur sollte er möglicherweise aufhören, anderen Ratschläge zu erteilen oder seine Positionen als Interesse des Gemeinwohls auszugeben.
Rainer Essers Erwiderung zum „kress pro“-Editorial: Vielfalt und Kooperation machen uns stark!
In Frankfurt gibt es einen Kiosk, direkt gegenüber dem Hauptbahnhof, einen Ort, an dem alle willkommen sind: die Banker und die Bedürftigen, die Nachbarn und die Touristen, die Alteingesessenen und die Zugezogenen. Früher hat Nazim Alemdar, der Besitzer des Kultkiosks Yok Yok, Kassetten und Videos verkauft. Doch als das analoge Geschäft immer schlechter lief, erinnerte er sich an einen Ratschlag seines Vaters: „Du musst dich an deine Kundschaft anpassen“, hatte dieser gesagt. „Es geht nicht um deinen Geschmack, sondern um ihren.“ Also begann das Yok Yok Bier zu verkaufen – 200 Sorten. Wer auch immer hier sein Feierabendbier trinkt, wird von Nazim behandelt wie ein Gast im eigenen Wohnzimmer. Sein Kiosk und seine Besucher sind eine große, wachsende Familie.
Nazim und sein Yok Yok sind ein Role Model auch für uns bei der „Zeit“. Seitdem das analoge Geschäft kleiner wird, investieren wir in neue Übertragungswege für unsere Inhalte und für unsere Marke. Unsere Redakteurinnen und Redakteure publizieren inzwischen neben Print auch digital, per Audio, auf Social Media und live auf der Bühne. So ist ein Kosmos entstanden von 100 Produkten mit vielen Zeitschriften, zahlreichen Podcasts, Videos auf Instagram und TikTok sowie vielen Veranstaltungen unter der Marke „Zeit“.
Darauf konzentrieren wir unsere Energie, Kreativität und Ressourcen. Juristische Auseinandersetzungen vermeiden wir, wann immer möglich. Auch zu uns ist eine Verwertungsgesellschaft schon vor gut zehn Jahren gekommen und hat gefordert, wir müssten mitmachen bei einer Schadensersatzklage von über 1 Milliarde € gegen Google. Von dieser Summe würde uns ein gebührender Anteil zustehen. Nach gründlicher Diskussion haben meine Kolleginnen, Kollegen und ich entschieden, dass wir nicht mitmachen. Unser Onlineportal profitiert, wie alle anderen Onlineportale der Zeitungsverlage auch, stark von Googles Suchmaschine, die uns einen beträchtlichen Anteil unseres Traffics bringt. Diesen Traffic können wir wiederum vermarkten. Deshalb optimieren die Verlage, auch die „Zeit“, ihre Überschriften und ihre Inhalte so, dass sie maximal von der Suchmaschine gefunden werden. Wir müssen uns jetzt nicht bei Google hierfür bedanken, weil Google mit der Suche selbst bestens verdient. Nur weshalb sollten wir Google verklagen dafür, dass sie uns auffindbar im Netz machen? Auf die Gefahr hin, dass sie möglicherweise unsere Inhalte nicht mehr berücksichtigen. Auch die Gerichte haben in den Jahren seitdem keine rechtliche Grundlage für die Milliardenforderung gefunden. Allerdings sind inzwischen beträchtliche Summen für Gerichte und Anwaltskosten geflossen, ohne ein greifbares Ergebnis.
Inzwischen ist Google den Verlagen entgegengekommen, mit dem Programm Google Showcase, an dem viele Verlage in Deutschland teilnehmen, und mit der Google News Initiative, mit der Google digitale Projekte von Verlagen unterstützt. Die „Zeit“ ist bei beiden Programmen, neben vielen anderen, auch Partner. Wer Google weiterhin zürnt, möge über Meta nachdenken. Meta bekommt von allen Verlagen recht ordentliche Geldbeträge für das Einwerben neuer Leser. Im Gegenzug fließt aber nichts, weder Geld noch Traffic. Denn Meta hat sein Nachrichtenprogramm aufgegeben.
Was den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) angeht, sind wir als Bürger alle froh, dass es ihn gibt. Was in Ländern passiert, die Fernsehen ausschließlich in privater Hand haben, sieht man zum Beispiel in den USA. Es wird nur über das berichtet, was im Mainstream ankommt und vermarktbar ist – und das dann auch nach dem politischen Gusto der Eigentümer. Das Argument, dass die kostenlose Nutzung von Inhalten des ÖRR im Netz die Nutzung von bezahlpflichtigen Inhalten privatrechtlicher Verlage beeinträchtigen kann, ist allerdings dann sehr plausibel, wenn das Angebot des ÖRR das Angebot der privatwirtschaftlich finanzierten Verlage ersetzt und überflüssig macht. Das betrifft weniger überregionale Onlineportale, die neben den Nachrichten viele zusätzliche Themen anbieten, von Psychologie über Gesundheit bis zu Datenjournalismus und Rezepten. Auch hat eine aufwändige Studie im Schweizer Markt, wo es einen ähnlichen Konflikt gibt, im Auftrag des Oxford/Reuters-Instituts ergeben, dass sich die Nutzung von digitalen Qualitätsinhalten im Netz potenziert. Nutzer der SRG-Angebote sind zusätzlich starke Nutzer auch der Bezahlangebote von Verlagen.
Anders sieht es aus, wenn der ÖRR auf lokaler und regionaler Ebene so viel bietet, dass die Verlage dort ihre Inhalte nicht monetarisieren können. Auch und gerade Regionalverlage, die wirtschaftlich besonders von der digitalen Transformation berührt werden, sind für unsere Meinungsvielfalt und Demokratie unverzichtbar. Auch hier sieht man wieder in den USA, was passiert, wenn es keine ordentliche Regionalzeitung mehr gibt. Die Bürger nehmen weniger an demokratischen Diskurs und an Wahlen teil. Die wirtschaftlich teilweise sehr schwierig gewordene Grundlage von Regionalverlagen darf nicht zusätzlich gefährdet werden. Deshalb wäre es sehr angemessen, wenn der gebührenfinanzierte ÖRR den Regionalverlagen konkret anbietet, wie man zum Nutzen beider wirksam redaktionell kooperieren kann. Und das müsste deutlich darüber hinausgehen und konkreter sein als das, was bisher angeboten wird. Der ÖRR könnte zum Beispiel Videomaterial zur Verfügung stellen, das die Verlage in ihren digitalen Angeboten einsetzen und vermarkten können. Oder der ÖRR könnte vermehrt auf Inhalte privater Verlage verlinken, um deren Sichtbarkeit und SEO-Ranking zu stärken. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Zusammenarbeit bei lokalen Inhalten. Ähnlich wie bei der dpa könnten Verlage lokale Inhalte entgeltlich an den ÖRR liefern.
Nur eine intensive Kooperation wird den Konflikt nachhaltig beenden. Und das ist unbedingt notwendig. Angesichts der immer größer werdenden Gefahren für unsere Demokratie durch Populisten sind die Qualitätsmedien verpflichtet, auch durch die im Grundgesetz in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 garantierte Pressefreiheit, sich zusammenzuraufen. Grundrechte sind nicht nur Rechte, sondern bedeuten im Gegenzug auch Pflichten. Wir sind dazu verpflichtet, aufeinander zuzugehen und Kompromisse zu verhandeln. Eine gemeinsame Anstrengung, ein Schulterschluss aller Qualitätsmedien würde unsere Gesellschaft weiterbringen. Es wäre ein wertvoller Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie in rauer werdenden Zeiten.
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